Vom 6. bis zum 9. Juni fanden die Europa-Wahlen statt, in den meisten Ländern am Sonntag, den 9. Juni. Wenn man es genau nimmt, ist diese Bezeichnung auch etwas irreführend, da es EU-Wahlen sind und keine Wahlen aller europäischen Länder. Vor der Wahl wurde viel darüber spekuliert, wie groß der Rechtsruck werden würde. Tatsächlich gab es auch eine spürbare Verschiebung nach rechts im Europaparlament. Allerdings ist diese nicht so extrem ausgefallen, wie vorher befürchtet wurde. Die Fraktionen, die vorher durch gemeinsame Absprachen die Arbeit der EU-Kommission unter Ursula von der Leyen getragen und unterstützt haben, haben auch weiterhin eine Mehrheit im Parlament. Diese Fraktionen sind die Christdemokraten der Europäischen Volkspartei (aus Deutschland sind die Unionsparteien Mitglied), die Sozialdemokraten der S&D (die SPD ist Mitglied) und die Liberalen von Renew Europe (die FDP ist Mitglied). Letztere hat ihren Namen durch Macron und seine vielen Abgeordneten der Wahl vor fünf Jahren erhalten.
Nach der Wahl sortieren die Fraktionen sich jetzt erstmal. Die großen Fraktionen der Christ- und Sozialdemokraten sind vom Ergebnis her recht stabil geblieben im Vergleich zur letzten Wahl, bei ihnen hat sich nicht viel verändert. Verloren haben die Grünen, besonders durch den Absturz der Grünen in Deutschland und die Liberalen, besonders durch die Verluste von Macron in Frankreich. Umgekehrt haben die rechten Parteien ordentlich dazugewonnen, besonders Marine Le Pen aus Frankreich und Giorgia Meloni aus Italien. Am rechten Rand gibt es das größte Stühlerücken, dort läuft es auf drei statt bisher zwei Fraktionen hinaus. Dazu später mehr. Zunächst ein ausführlicherer Blick auf die Ergebnisse in einzelnen Ländern und Regionen.
Deutschland
Die Ampel wurde abgestraft: Für die SPD gab es das historisch schlechteste Ergebnis bei einer Europawahl und das schon zum zweiten Mal hintereinander. Die Grünen haben ungefähr das verloren, was sie beim letzten mal dazugewonnen hatten. 2019 war damit gewissermaßen ein Ausreißer nach oben statt die neue Regel, wenn man sich die Ergebnisse der letzten Wahlen anguckt. Und die FDP hat fast nichts verloren, was fast schon ein Erfolg ist.
Man kann sagen, dass die Botschaften der Parteien nicht ideal gewählt und unabhängig davon auch schwer zu vermitteln waren. Die Grünen haben sehr stark vor der Gefahr von Rechts gewarnt statt auf ihre Stärken und ihre eigenen Themen zu setzen. Dahinter mochte eine gute Absicht stecken und es wünschen sich tatsächlich die meisten, dass die rechten Parteien nicht zu stark werden. Nur ist das für sich genommen kein Grund dafür, die Grünen zu wählen. Die SPD hingegen hat sich als Friedenspartei inszeniert, was mindestens irritiert und den Leuten am Infostand vor Ort schwer zu erklären war. Außerdem wurde der Kanzler plakatiert, was oft Sinn ergeben kann, da er als Regierungschef Führung und Stärke verkörpern kann. Aber bei den aktuellen Umfragewerten von ihm als Person und der von ihm personifizierten Koalition war dies nicht die beste Idee.
Schaut man auf die Parteien der Opposition, so kann man zunächst feststellen, dass die Union sich wie erwartet als stärkste Kraft behaupten konnte, aber nur minimal von der großen Ampel-Unzufriedenheit profitiert hat. Damit kann man zufrieden, aber nicht glücklich sein. Die AfD hingegen kann mit ihrem Ergebnis zufrieden sein, welches trotz der Skandale ein deutlicher Zugewinn ist. Sie übersteht offenbar auch, dass ihre Kandidaten chinesische Spione einstellen. Wer diese Partei wählt, tut dies mittlerweile aus Überzeugung. Die Nachwahlbefragungen haben diesbezüglich auch ergeben, dass den meisten der Wähler egal ist, dass die Partei als rechtsextrem gilt.
Es lässt sich außerdem festhalten, dass Wagenknecht zieht. Die von ihr erst in diesem Jahr gegründete Partei kam aus dem Stand bundesweit auf 6%, womit auch ein Einzug in den Bundestag möglich wäre. Anders als spekuliert und von einigen gehofft, ging dieser Erfolg aber nicht auf Kosten der AfD, die ja auch zulegen konnte. Tatsächlich hat das BSW von all den größeren Parteien Wähler gewinnen können, nicht nur von der Linken, und konnte auch noch einige Nichtwähler mobilisieren. Besonders im Osten von Deutschland gab es für das BSW sehr gute Ergebnisse und die Partei könnte schon bei den Landtagswahlen im Herbst eine entscheidende Rolle einnehmen bei der Frage der Regierungsbildung.
Frankreich
Auch beim großen Nachbarn gab es viel Bewegung. Wie bei uns ist auch dort die Zufriedenheit mit der aktuellen Regierung nicht sehr groß. Macron und seine großen Reden begeistern die Leute nicht mehr. Die extremen Ränder sind entgegen seiner Ankündigung bei der ersten Präsidentschaft auch keineswegs geschwächt. Stattdessen ist es Le Pen erfolgreich gelungen, ihre Partei zu entdiabolisieren, wie sie selbst es auch nennt. Hilfreich war dabei insbesondere ihr junger, neuer Parteichef Jordan Bardella. Das charismatische, neue Gesicht reicht für viele wohl, um die Partei in ihrer jetzigen Form nicht mit der früheren zu identifizieren, auch wenn viele inhaltliche Positionen die gleichen wie früher sind.
Als Reaktion auf das für seine Partei desaströse Wahlergebnis, sein Wahlbündnis war nur halb so stark wie der Rassemblement National von Marine Le Pen, hat Macron plötzlich Neuwahlen für den 30. Juni und den 7. Juli ausgerufen. In Frankreich gibt es zwei Wahlgänge, daher zwei Daten für die Wahl. Macron hat als Präsident das Recht, so einen Schritt zu gehen, allerdings ist er sehr ungewöhnlich und es war auch ein sehr überraschender Schritt für die meisten. In Anbetracht des Ergebnisses bei der Europawahl schien dieser Schritt sehr riskant, da auch hier ein deutlicher Sieg von Le Pen zu erwarten war. Die einzige halbwegs überzeugende Theorie war die, dass er hoffte, Linke wie Rechte durch die Überraschung zu überfordern und seine Mitte-Kandidaten jeweils durchzubekommen, weil die Leute die Extreme nicht wollen.
Er hat sich geirrt. Die Rechte war sowieso bereit, durch das europäische Ergebnis gestärkt. Und die Linke hat sich überraschend schon nach einem Tag zur „Neuen Volksfront“ zusammengeschlossen, eine Anspielung auf die linke Volksfront, die sich in den 1930ern zusammengeschlossen hatte, um Faschisten an der Regierung zu verhindern.
Am Ende ist das Land glimpflich davongekommen, abhängig davon, wie man es betrachtet. Durch strategisches Zurückziehen im 2. Wahlgang zugunsten anderer Kandidaten durch Macrons Leute und das linke Lager wurde eine durchaus mögliche rechte absolute Mehrheit verhindert. Allerdings gibt es jetzt nach der Wahl drei große Blöcke, von denen keiner auf eine Mehrheit kommt: Die Linke, Macrons zentristischen Block und die Rechte. Anders als Deutschland und andere Länder ist Frankreich keine Koalitionen und Kompromisse gewohnt, weshalb dem Land jetzt entweder politischer Stillstand droht oder aber ein dauerhaftes hartes Ringen um Kompromisse.
Iberische Halbinsel und Italien
Gute Nachrichten gibt es von der iberischen Halbinsel, also von Spanien und Portugal. Wie bei den letzten Parlamentswahlen in beiden Ländern, die noch nicht allzu lange zurückliegen, haben die großen Parteien der Mitte besonders gut abgeschnitten. Das ist heute ja schon eher selten, dass die extremen Ränder geschwächt sind.
Im Gegensatz dazu wird Italien derzeit von einer sehr rechten Regierungschefin regiert. Giorgia Meloni hat sich bisher aber für italienische Verhältnisse sehr gut gehalten. Die Haltbarkeit einer Regierung ist dort vergleichsweise kurz bemessen. Sie hat es aber nicht nur geschafft, im Amt zu bleiben, sondern auch, bei der Europawahl ihr Ergebnis der Parlamentswahl leicht zu überbieten, was entsprechend die noch größere Leistung ist. Helfen tut ihr dabei auch ihr guter internationaler Ruf. Entgegen vorheriger Erwartungen arbeitet sie sehr konstruktiv mit den anderen Staats- und Regierungschefs zusammen und trägt die Unterstützung für die Ukraine mit. In der Innenpolitik verfolgt sie aber strikt ihren rechten Kurs, darüber wird auf europäischer Ebene dann gerne hinweggesehen, solange sie in Europa konstruktiv arbeitet.
Osteuropa
In Polen hat das Bündnis Bürgerkoalition von Premier Tusk im Vergleich zur Wahl vom letzten Jahr dazugewinnen können. Die langjährige Regierungspartei PiS hingegen hat verloren, ebenso wie die Regierungspartner von Tusk. Die Bürgerkoalition gehört wie die deutschen Parteien CDU und CSU zur Europäischen Volkspartei.
Eine Überraschung gab es in Ungarn. Viktor Orbans Fidesz-Partei ist zwar deutlich stärkste Kraft geworden, aber hat einige Prozentpunkte verloren und ihr schlechtestes Europawahl-Ergebnis eingefahren. Gleichzeitig hat Péter Magyar mit der Tisz-Partei ganze 30% geholt. Er war selber mal Fidesz-Mitglied und wurde von der Partei auch als größter Gegner ausgemacht. Entsprechend hat sich Fidesz stark auf ihn konzentriert in den Kampagnen. Genau deshalb ist das Ergebnis so beachtenswert. Es zeigt, dass es eine nicht so kleine Unzufriedenheit mit Orban gibt und die konnte er erfolgreich einfangen. Gleichzeitig ist das deutliche Problem gewesen, dass er seine Stimmen nicht so sehr von ehemaligen Fidesz-Wählern hat, sondern von Anhängern der anderen Oppositionsparteien, die stark untergegangen sind bei diesem Duell.
Skandinavien
Ähnlich wie auf der iberischen Halbinsel haben auch in den skandinavischen Mitgliedstaaten der EU die Populisten schlecht abgeschnitten. Die moderaten Parteien der Mitte haben gepunktet. Teilweise konnten auch linke Parteien leicht bis deutlich dazugewinnen im Vergleich zum letzten Mal. Wahlkampf gegen Europa kam hier also nicht gut an.
Weiterer Verlauf
Nach der Wahl stand nun insbesondere die Aufstellung der Fraktionen im Raum. Die meisten sind in ihrer Zusammensetzung nahezu identisch im Vergleich zu vor der Wahl. Bei den rechten Parteien gab es aber ein paar Verschiebungen hinsichtlich der Mitgliedsparteien der Fraktionen und auch der Stärke dieser Mitglieder.
Neu gegründet wurde die Partei und Fraktion der „Patrioten für Europa“ von unter anderem der österreichischen FPÖ und Orbans Fidesz. Die Fraktion besteht nahezu aus den gleichen Mitgliedern wie zuvor die ID-Fraktion vor der Wahl. Im Unterschied zu vorher ist die AfD aber nicht mehr erwünscht. Diese hat mit einer kleinen Gruppe Abgeordneter eine dritte rechte Fraktion ins Leben gerufen: „Europa der Souveränen Nationen“. Diese sind jedoch mit Abstand die kleinste der rechten Fraktionen. Am größten ist die der Patrioten, diese sind sogar die drittgrößte Fraktion im Parlament. Ähnlich groß wie die liberale Fraktion ist die dritte der rechten Fraktionen: Die Europäischen Konservativen und Reformer. Zu diesen gehört beispielsweise auch die Partei von Giorgia Meloni. Marine Le Pens RN hingegen ist Teil der Patrioten.
Die Rechten sind also nicht geeint, was auch an sehr unterschiedlichen Positionen liegt, die sich nicht leicht miteinander vereinen lassen. Aber in ihrer Gesamtzahl sind sie nicht wenige. Und einzelne wie Meloni sind teilweise sogar zu konstruktiver Mitarbeit bereit, was bei den linken Parteien jedoch skeptisch beäugt wird.
Neben den Fraktionen stellt sich jetzt natürlich auch die Frage, an wen die wichtigen Posten gehen. Von der Leyen soll Kommissionspräsidentin bleiben. Antonio Costa, ehemaliger sozialdemokratischer portugiesischer Regierungschef, soll Ratspräsident werden, damit würde er die Treffen der Staats- und Regierungschefs organisieren und leiten. Hohe Außenbeauftrage, was glorreicher klingt als es faktisch ist, soll Kaja Kallas werden, die liberale Regierungschefin aus Estland. Damit würde bei den höchsten Posten der Parteiproporz und auch der regionale beachtet, da mit Kallas auch jemand aus den östlichen Mitgliedstaaten dabei wäre, aus einem kleinen noch dazu.
Von der Leyen wurde bereits am 18. Juli mit 401 Stimmen, bei notwendigen 360 Stimmen, erneut vom Parlament zur Kommissionspräsidentin gewählt. Die weiteren Kommissare werden erst noch gewählt. Zunächst werden entsprechende Kandidaten von den jeweiligen Staaten vorgeschlagen, dann von den Ausschüssen des Parlaments befragt und gewählt und letztlich stimmt das Parlament über die Kommissare ab. Daneben gilt es als wahrscheinlich, dass wie bisher die Christ-, die Sozialdemokraten und die Liberalen sich zusammentun und einen groben inhaltlichen Fahrplan für die nächsten fünf Jahre festlegen.
In diesem Sinne hat das Parlament sich nun sortiert und die nächsten Schritte wurden auch schon angegangen.
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